Am Gipfel der Naivität

18.11.2025

Wenn es nach dem "Focus" geht, wird heute in Berlin der "Gipfel der Naivität" bestiegen: "Dank Friedrich Merz gibt es in Berlin mittlerweile fast mehr Gipfeltreffen als relevante Entscheidungen. Einen Auto-Gipfel veranstaltete er schon und einen Stahl-Gipfel auch. Kita- oder Weihnachtsmarkt-Gipfel werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Heute allerdings wird in Berlin erst mal der Gipfel der Naivität bestiegen".

"Es geht" lt. Fokus "um Europas digitale Souveränität. Also um etwas, das für uns noch weiter entfernt ist als für die Union eine Verabschiedung ihres Rentenpakets. Fast 1000 Fachleute aus der ganzen EU werden auf dem EUREF-Campus erwartet. Merz und Emmanuel Macron werden Reden halten. Dabei geht hierzulande längst nichts mehr ohne eine Reihe amerikanischer Konzerngiganten, die unser Leben dominieren".

Quelle: https://www.focus.de/politik/briefing/in-berlin-steigt-der-gipfel-der-naivitaet_b6d76ffc-45e3-429b-8967-60d59423272d.html

Wie naiv, manche nennen es schlicht vertrottelt bzw. ignorant, sich Europa in den letzten Jahren verhalten hat, wird schon daran ersichtlich, dass nahezu der gesamte "öffentliche Bereich", wozu unter anderem auch alle sicherheitsrelevanten Themen wie Militär, Polizei und Geheimdienste zählen, nur deshalb funktioniert, weil US-amerikanische Unternehmen entsprechende "Lösungen" anbieten.

"Die Amerikaner haben unter der Oberfläche ihrer Software-Produkte längst die komplette digitale Wertschöpfungskette erobert: Chipdesign, Server, Cloud-Plattformen, KI-Modelle, Online-Marktplätze – alles in US-Hand. Die Marktbeherrschung geht weit übers Finanzielle hinaus" schreibt Thomas Tuma im "Focus"; der "Cloud Act" verpflichtet seit 2018 alle Tech-Konzerne, "auf Anfrage der US-Sicherheitsbehörden auch ihre im Ausland gewonnenen Daten weiterzugeben. Es ist ihnen nicht einmal erlaubt, ihre Kunden darüber zu informieren".

"Gerade erst ließ sich Google dafür feiern, in der Region Frankfurt 5,5 Milliarden Euro in den baldigen Bau und die Erweiterung großer Cloud-Rechenzentren zu investieren. Ob der bei der Pressekonferenz mitklatschende SPD-Finanzminister Lars Klingbeil vom CLOUD Act wusste, kann ich nicht sagen. Aber Telekom-Chef Tim Höttges dürfte längst ahnen, worauf er sich gerade in München einlässt. Dort soll demnächst Baubeginn sein für eine weitere KI-Fabrik. Der US-Chipriese Nvidia steuert 10.000 Superchips bei. Wie super die wirklich sein werden, wird man sehen. Denn Trump hat dem Nvidia-Chef Jensen Huang jüngst verboten, etwa an China seine neuesten Blackwell-Chips zu verkaufen, die der Konkurrenz um Jahre voraus sein sollen. Sind solche deutschen Projekte noch erfolgreiche Standortpolitik oder schon der nächste Sargnagel für unsere Cybersicherheit?

Über echten Datenschutz redet Europa bislang wie eine KI über Gefühle. Insofern ist es zwar durchaus zu begrüßen, dass auch die hiesige Politik nun aufwacht. Aber mehr als ein desaströses Lagebild dürfte der heutige Digitalgipfel in Berlin nicht liefern können."

Quelle: https://www.focus.de/panorama/deutschland-und-europa-haben-die-digitale-unabhaengigkeit-verschlafen_9828d894-0ab1-436a-9893-4831374d8764.html

Soweit also der "Focus"; und hierzulande geht Sekretär Alexander Pröll mit seiner "Declaration on European Digital Sovereignty" hausieren, die wiederum nichts anderes ist als ein billiger Abklatsch der "European Declaration on Digital Rights and Principles for the Digital Decade" aus dem Jahr 2022; diese "European Declaration" basiert auf dem "Digitalen Kompass 2030: Ein europäischer Weg für das digitale Jahrzehnt" vom 09.03.2021; demnach wäre es 2021 das Ziel der EU gewesen, "digital souverän in einer offenen und vernetzten Welt zu sein, die selbstbewusste Bürger und innovative Unternehmen in einer menschenzentrierten, inklusiven, wohlhabenden und nachhaltigen digitalen Gesellschaft umfasst".

Von diesem Ziel ist man heute weiter entfernt als damals; die EU bzw. die verantwortlichen Politiker haben es schlichtweg verschlafen, Europas Abhängigkeit von US-amerikanischen Konzernen zu reduzieren und eigene Lösungen zu entwickeln; insofern klingt die Ankündigung des deutschen Digitalministers Karsten Wildenberger (CDU) beinahe wie eine gefährliche Drohung: "Von diesem Gipfel geht ein klares Signal aus: Wie Europäer können und wollen bei Schlüsseltechnologien zu den Spitzenreitern gehören" – Deutschland und Frankreich wollen demnach Motor für mehr europäische digitale Souveränität sein; dem geschulten Europäer bzw. Merz- und Macron-Kenner muss an dieser Stelle das Lachen oder Kotzen kommen …

Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/international/frankreich-und-deutschland-merz-und-macron-wollen-gemeinsam-europa-staerken/100151047.html

Angesichts der bisherigen "Leistungen" ist zu befürchten und davon auszugehen, dass Europa auch in den nächsten Jahren digital quasi im Blindflug agiert und heil- wie hilflos US-amerikanischen Unternehmen ausgeliefert bliebt; selbst sensible Behörden- und Unternehmensdaten landen nahezu ausschließlich auf Servern von Amazon AWS, Microsoft Azure oder Google Cloud; eine Antwort auf die Frage, was das, auch auf lange Sicht betrachtet, vor allem datenschutzrechtlich bedeutet, ist man bislang schuldig geblieben.

Quelle: https://www.heute.at/i/buerokratie-ist-zum-scheien-reality-star-rastet-aus-120118760/doc-1ivpur92j4

Das, was "unser" Alexander Pröll jetzt fordert und als "seine Erfindung" verkaufen will, wurde auf EU-Ebene bereits 2021 beschlossen und ist insofern nichts anderes als ein absolut untauglicher Versuch, vom eklatanten Fehlverhalten all jener Politiker abzulenken, die zumindest seit 2021 durch ihr Nichtstun dafür verantwortlich sind, dass wir digital am Rockzipfel von US-Tech-Konzernen hängen, die mit unseren Daten wiederum genau das tun, was von Donald Trump verlangt wird.

Über Pröll lacht nur ganz Österreich, über Macron & Merz ganz Europa und über Europa der ganze Rest der Welt …

Chr. Brugger

18/11/2025