EU „sanktioniert“ Weißrussland

26.05.2021

"Der Ryanair-Flug 4978 (Flugnummer FR4978, Rufzeichen RYR1TZ) war ein internationaler Linienflug von Athen (Griechenland) nach Vilnius (Litauen), bei dem eine Boeing 737 am 23. Mai 2021 kurz vor Eintritt in den litauischen Luftraum durch weißrussische Behörden zwangsweise nach Minsk (Weißrussland) umgeleitet wurde", ist auf https://de.wikipedia.org/wiki/Ryanair-Flug_4978 zu lesen.

Von Kaperung, Entführung, einem Verstoß gegen international geltendes Luftfahrtrecht, einer Verletzung des Völkerrechts, einem willkürlichen, politisch motivierten, Alleingang des "letzten Diktators in Europa" (zumindest mit (Mit-) Wissen des russischen Präsidenten, Wladimir Putin) ist die Rede. Vor allen anderen meldeten sich, nicht unerwartet, Europäische Union, die USA sowie das (Militär-) Bündnis "North Atlantic Treaty Organization" (NATO) zu Wort. Die EU ging sogar so weit, im Rahmen eines "Gipfeltreffens" der Regierungschefs in Brüssel (im Übrigen befindet sich dort auch der Sitz der NATO) umfangreiche "Sanktionsmaßnahmen" gegenüber dem Staat Weißrussland in Aussicht zu stellen.

"Es ist jetzt an der Zeit, mit harten Sanktionen gezielt alle Stützen des Regimes Lukaschenko zu treffen: Militär, Polizei, Verwaltung, Sicherheitsdienste und vor allem die Staatsunternehmen, von denen das Regime und seine korrupten Profiteure wirtschaftlich leben", tönt der als Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit entlassene "Dauerwahlverlierer" und CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im deutschen Bundestag. Ähnlich sieht das der Bundesminister für Auswärtiges in Deutschland, Heiko Maas (SPD): "Was Lukaschenko getan hat, ist an Niedertracht kaum zu überbieten.  Das ist ein dreifacher Angriff: ein Angriff auf die Sicherheit des Luftverkehrs, die Pressefreiheit und auf die europäischen Bürgerinnen und Bürger an Bord. Und es ist eine Grenzüberschreitung, die die internationale Gemeinschaft nicht durchgehen lassen kann. Jedem Diktator, der mit derlei Gedanken spielt, dem muss klargemacht werden, dass es dafür einen bitteren Preis zu zahlen gibt."

Das österreichische Außenministerium "zwitschert" naturgemäß mit: "Alarmierende Berichte über @Ryanair. Flugzeug, das nach #Minsk umgeleitet wurde. Alle Passagiere müssen ihre Reise fortsetzen dürfen und wir brauchen eine unabhängige internationale Untersuchung des Vorfalls. Wir fordern dringend die Freilassung des Aktivisten Roman #Protasevich".

Anlässlich eines Treffens zwischen Schallenberg und der weißrussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja am 28.04.2021 in Wien lautete das Resümee unseres Außenministers: "Bei einem Treffen mit der weißrussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja am Mittwoch in Wien unterstrich Außenminister Alexander Schallenberg die Wichtigkeit des Dialogs mit allen Seiten. Mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien verfüge Österreich über ein perfekt geeignetes Dialogforum. Eckpfeiler des österreichischen Engagements für Weißrussland seien die Unterstützung der Zivilgesellschaft sowie die Notwendigkeit, Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen: Aus unserer Sicht sind vor allem zwei Aspekte wesentlich: die Unterstützung für alle Weißrussinnen und Weißrussen, die in ihrem Heimatland für ihre Rechte kämpfen, sowie das Vorgehen gegen Straffreiheit im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen" (www.bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aktuelles/2021/04/aussenminister-alexander-schallenberg-trifft-swetlana-tichanowskaja/).

Swetlana Tichanowskaja (Foto: AFP; Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/international/swetlana-tichanowskaja-eine-ersatzloesung-wird-zur-konkurrenz-von-alexander-lukaschenko/26068412.html?ticket=ST-4363826-4UKPt2MbbxHeGDupdCGw-ap1)

Dort liest man dann weiter: "Ein weiteres zentrales Anliegen ist die Bekämpfung der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und Straffreiheit in Weißrussland. Österreich setzt sich für dieses Thema kontinuierlich in multilateralen Gremien wie dem UNO-Menschenrechtsrat ein: Jene, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, müssen wissen, dass sie früher oder später dafür zur Verantwortung gezogen werden, so Alexander Schallenberg."

Eigentlicher Adressat des westlichen "empört Seins" - mehr ist es, wie immer, nicht - war (wieder einmal) Alexander Lukaschenko, der seit 1994 amtierende Präsident der Republik Belarus (Weißrussland).

(Bild: DPA; Quelle: https:// www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erzwungene-flugzeuglandung-lukaschenko-ist-jedes-mittel-recht-17356195/alexander-lukaschenko-17356214.html)

Nun ist zweifelsfrei davon auszugehen, dass Präsident Lukaschenko ein System diktiert, in dem Meinungsfreiheit ein Fremdwort darstellt, Grund- und Freiheitsrechte missachtet, Oppositionelle gefangen genommen, gefoltert, getötet werden. Mit zweckentfremdetem Einsatz von Geheimdiensten, Militär und Polizei hält Lukaschenko, der (seinen eigenen Aussagen nach) in Hitlers Führungsstil ein Vorbild für das belarussisches Herrschaftssystem sieht, seine Macht seit einem Vierteljahrhundert aufrecht; und das vor den Augen der westlichen Öffentlichkeit.

Abgesehen von anhaltendem Echauffieren, dem Hinweis darauf, man anerkenne Lukaschenko nicht als "legitimen Präsidenten" (so Josep Borrell, hoher Vertreter der EU für auswärtige Angelegenheiten, anlässlich eines Interviews mit der spanischen Tageszeitung El Pais am 22.08.2020) sowie umfangreichen Sanktionen der EU gegen Belarus (u.a. Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18.05.2006 über restriktive Maßnahmen gegen Präsident Lukaschenko und verschiedene belarussische Amtsträger samt nachfolgenden "Präzisierungen" und "Verschärfungen" in den Jahren 2020 und 2021) ist die "Erfolgsgeschichte" all dieser westlichen "Bemühungen" ziemlich schnell erzählt, in einem Satz beschreibbar: Lukaschenko ist weiterhin an der Macht, ein Ende seines Treibens nicht absehbar.

Dass die außenpolitischen Bemühungen der EU bislang als zahn- und wirkungslos "verhallt" sind, wird man auch im fernen Minsk vernommen haben. Daran werden auch weitere Maßnahmen (Flugverbote etc.) nichts ändern.

Der verbliebene Rest an diplomatisch-politischem Anstand mag zwar eine abermalige "Verurteilung" von Lukaschenkos "Machtrausch" in einem quasi-demokratischen Licht erscheinen lassen; bei den anhaltenden Bemühungen der EU, der weißrussischen Zivilbevölkerung, den oppositionellen Intentionen, der journalistischer Meinungsvielfalt etc., sei es in Form von "Vermittlungsversuchen" oder "internationalen Allianzen" zu Hilfe kommen zu wollen, wird es sich so lange lediglich um ein "frustriertes Aufbegehren" (im Sinne von nutzlosem Ansinnen) handeln, als die schützende Hand Russlands bzw. Wladimir Putins den "weißrussischen Wahnsinn" ungeniert gewähren lässt und nicht Einhalt gebietet. Das dürfte sich mittlerweile auch ins nahe Brüssel durchgesprochen haben.

Die EU muss also abermals zur Kenntnis nehmen, dass ihre "gemeinsame Außenpolitik" dem Grunde nach nichts wert ist; selbst dann nicht, wenn man sich, wie im konkreten Anlassfall, ein (einziges) Mal in der (vermeintlich?) feudalen Lage befindet, geeint auftreten zu können.

Vermeintlich? Bislang haben sich (beinahe) alle "Regierungschefs" der EU-Mitgliedsstaaten zur Causa "Ryanair-Flug 4978/Roman Protasevich" erklärt; der Pole Mateusz Jakub Morawiecki spricht von "Staatsterrorismus", der Grieche Kyriakos Mitsotakis von "staatlicher Entführung", die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von "absolut inakzeptablem Verhalten". Einzig Ungarns Premierminister Viktor Orban hat die "Flugzeugentführung" nach Minsk noch nicht kommentiert - ein Zufall?

Wohl eher nicht, gilt doch Orban einerseits als Freund Wladimir Putins; andererseits ist Orban einer der wenigen "westlich orientierten" Staatschefs, denen Lukaschenko das Gespräch nicht verweigert.

Noch vor knapp einem Jahr, anlässlich eines Staatsbesuchs von Orban in Minsk konnte dazu erfahren: "Ungarn unterstützt die EU-Strategie der östlichen Partnerschaft, wozu Weißrussland zählt. Die Partnerschaft kann nicht, wie es der Fall ist, auf Sanktionen aufgebaut sein. Ungarn tritt dafür ein, dass die EU ihre Sanktionen gegen Minsk aufhebt. Wir werden diese Meinung in den europäischen Verhandlungen unterstreichen", so Orban.

(Quelle: https://deu.belta.by/president/view/lukaschenko-uber-politische-und-wirtschaftliche-ergebnisse-der-gesprache-mit-orbn-50541-2020/)

"Weißrusslands Präsident Lukaschenko sagte, die Beziehung seines Landes zur Europäischen Union sei in den vergangenen Jahren pragmatischer geworden, was insbesondere mit den ungarischen Bemühungen zu tun habe. Budapest sei Weißrusslands wichtigster Partner innerhalb der EU, so Lukaschenko. "Ungarn versteht uns und hilft wie kein anderer, unsere Beziehungen mit der Europäischen Union voranzubringen", betonte der Präsident" (nachzulesen auf: https://de.euronews.com).

Auch das "getrübte" Verhältnis der EU zu Russland (Wirtschaftssanktionen inklusive) wird nicht dazu beitragen, dass Putin sein Verhalten gegenüber dem Regime in Weißrussland ändert. Wie das offizielle Russland mit "Regimegegnern" bzw. Anti-Russland-Maßnahmen umzugehen pflegt, durfte der "Chefdiplomat" der EU (Josep Borrell) bei seinem Besuch im Kreml Anfang Februar dieses Jahres erfahren. Er ließ sich vom russischen Außenminister Sergei Lawrow nahezu eine Stunde lang öffentlich demütigen - ohne ein Wort des Widerspruchs. Bei seiner (reumütigen) Rückkehr wurde Borrell mit Häme überschüttet und nicht nur medial gescholten.

Dazu schrieb beispielsweise die "Süddeutsche Zeitung" am 07.02.2021 unter dem Titel "Der unglückliche Herr Borrell. Bei seinem Besuch in Moskau wird der Chefdiplomat der Europäischen Union vorgeführt": "Dass nach seiner Moskau-Reise niemand zufrieden sein würde, hatte Josep Borrell erwartet. Der EU-Außenbeauftragte war aufgebrochen, ohne dass klare Ergebnisse zu erwarten waren: Er wollte den Dialog suchen, erneut die sofortige Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny fordern und mit der Zivilgesellschaft sprechen. Vor dem Abflug hatte er gesagt: Wir können nicht sagen: Ich mag dich nicht, also bleibe ich in meiner Ecke. Russlands Präsident Wladimir Putin geht jedoch nach wie vor keinen Millimeter auf die EU zu. Während Außenminister Sergej Lawrow am Freitagnachmittag mit Borrell sprach, wurde bekannt, dass Russland Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden ausweist, weil sie an Pro-Nawalny-Protesten teilgenommen hätten. Dies anzuordnen, während sich Borrell im Gästehaus des Außenministeriums befindet, war demütigend und machte die Visite zum Desaster."

Scheinbar hat die Europäischen Union im "Umgang" mit Alexander Lukaschenko nur noch einen einzigen Hoffnungsträger in der Person des US-Präsidenten Joe Biden, der sich Mitte Juni 2021 mit Präsident Putin treffen wird. Das ist zwar nur eine vage Hoffnung; aber allemal erfolgversprechender als die hoffnungs- wie erfolglose Außenpolitik des inhomogenen europäischen Staatenkonglomerates.

Chr. Brugger

26.05.2021