Königsgambit?
"Das Königsgambit ist eine Eröffnungsvariante im Schach, die zu den offenen Spielen gehört. Weiß opfert sehr scharf im zweiten Zug den f-Bauern. Es gehört zu den beliebten Eröffnungen der romantischen Epoche des Schachs im 19. Jahrhundert, bei der Angriffsspiel über alles ging. Heute gilt das Königsgambit als zweischneidig, daher sieht man es auf Spitzenturnieren eher selten".
"Ganz generell versteht man im Schachspiel die freiwillige Preisgabe eines Bauern mit dem Ziel, ein anderweitiges Äquivalent bzw. einen Vorteil zu erlangen; allgemeinsprachlich wird der Begriff im übertragenen Sinn verwendet, wenn etwas "Nachrangiges" geopfert wird, um etwas "Höherwertiges" zu erhalten oder zu stärken". Soweit die Beschreibungen auf schach.de sowie wikipedia.at.
Man könnte diese übertragene Sichtweise auch als "Kuhhandel" beschreiben, der u.a., negativ konnotiert, tatsächlich nur die Verletzung einer Fürsorgepflicht verdecken soll.
Genau das aber könnte gerade jetzt in Österreich der Fall sein. Für die nach und nach zu Tage tretenden Unzulänglichkeiten im Zusammenhang mit dem Terroranschlag von Wien am 02.11.2020 braucht man notgedrungen einen "Sündenbock"; man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die zuständigen Behörden (Innenministerium & Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) vor allem für Medien und Öffentlichkeit einen "Schuldigen" benötigen. Dies nicht zuletzt schon deshalb, um von allfälligen eigenen Unzulänglichkeiten weiterhin ablenken zu können.
Im Vorfeld der Fahrt des Attentäters (mit dem Auto der Mutter) in die Slowakei mit dem Ziel, Munition des Kalibers 7,62 x 39mm zu kaufen, traf er sich in Wien, unter den Augen und mit Kenntnis der österreichischen Verfassungsschützer, mit Gleichgesinnten aus der Schweiz und Deutschland.
Der Ankauf von Munition in Bratislava misslang, die österreichischen Behörden (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung - BVT) wurden informiert und hatten, nach Mitteilung der slowakischen Behörden, spätestens am 10.09.2020 Kenntnis vom späteren Täter, Kujtim Fejzulai.
Beim Anschlag verwendete der Täter ein Sturmgewehr des Typs Zastava M70 (hergestellt im ehemaligen Jugoslawien); die Feuerwaffe basiert auf der Technik des Kalaschnikow-Sturmgewehrs (AK-47 und AKM) und verschießt das Kaliber 7,62 × 39 mm.
Ich habe bereits mehrfach auf die Zuständigkeiten der österreichischen Staatsschutzbehörden hingewiesen; man hat zwar zwischenzeitlich den Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) Wien, Erich Zwettler (auf eigenen Wunsch?), "außer Dienst" gestellt bzw. suspendiert; das ändert aber nichts daran, dass man von einem "Multiorganversagen" im Staatsschutz ausgehen muss.
Nach den Erläuterungen zum Bundesgesetz, mit dem das Bundesgesetz über die Organisation, Aufgaben und Befugnisse des polizeilichen Staatsschutzes (Polizeiliches Staatsschutzgesetz - PStSG; seit 26.02.2016 in Kraft) entfaltet das BVT seine Tätigkeit unter Leitung und gemäß den Weisungen des Bundesministers für Inneres und des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit. Demgegenüber stellen die neun Landesämter Verfassungsschutz eine Teilorganisation der Landespolizeidirektionen dar und entfalten ihre Tätigkeit, sofern eine solche nicht ausdrücklich dem Bundesamt vorbehalten ist, unter Leitung und gemäß den Weisungen des Bundesministers für Inneres, des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit und des Landespolizeidirektors.
Auch nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes ist das BVT keine eigene Dienststellte; vielmehr bestünden keine besonderen gesetzlichen Bestimmungen betreffend einer "Organisationseinheit BVT". "Das BVT ist, wie bereits das Organigramm des Bundesministeriums für Inneres zeigt, eine organisatorische Untergliederung der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit (Sektion II)" (VfGH, 22.02.2013, B1130/12).
Die "Funktionen" und die hierarchische Einordnung von BVT und LVT sind damit gesetzlich eindeutig geregelt.
Nun hat Innenminister Nehammer mehrfach darauf hingewiesen, dass vor allem einer seiner Vorgänger im Amt, Herbert Kickl, den Verfassungsdienst zerstört hätte und damit implizit für den desolaten Zustand des BVT verantwortlich sei. Nehammer hat damit, so hat es den Anschein, einen weiteren Verantwortlichen für das Attentat in Wien ausfindig gemacht.
Aus der innenpolitischen Historie des jetzigen Innenministers ergibt sich aber klar und deutlich, dass Nehammer (als ÖVP-Generalsekretär und Nationalratsabgeordneter) bis zum Scheitern der türkis-blauen Bundesregierung durchaus auf der Seite von Herbert Kickl stand bzw. zu finden war (Der STANDARD berichtete darüber sehr ausführlich am 05.11.2020 "Als Nehammer Kickl noch verteidigte und beklatschte").
Nehammer hat auch mehrfach angekündigt bzw. anlässlich von Pressekonferenzen mitgeteilt, dass es umgehend einer grundlegenden Reformierung oder Neustrukturierung des BVT bedürfe und man entsprechende Reformen bereits eingeleitet habe.
Bereits am 06.07.2020 nahm der Innenminister an einer Sitzung des Ausschusses für Innere Angelegenheiten im Parlament teil. Er meinte dabei, dass "die Änderung des Polizeilichen Staatsschutzgesetzes ein wesentlicher Schritt sei, um die Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung bestmöglich voranzutreiben".
Bislang hat man im Rahmen der geplanten Reformbemühungen aber lediglich eine neue Ausbildung für Mitarbeiter des BVT sowie eine Erweiterung der Sicherheitsprüfung (vertiefende Vertrauenswürdigkeitsprüfung der Mitarbeiter des BVT) gesetzlich implementiert.
Geht es nach Nehammer, soll die Reform des BVT bis Ende des Jahres fertig sein, ab dem 2. Quartal 2021 dann die operative Umsetzung beginnen. Bis zu diesem Zeitpunkt wird der jetzige Innenminister vermutlich bereits ca. 1 ½ Jahre im Amt gewesen sein. Bis dorthin wird sich aber auch im BVT bzw. im Bereich des Staatsschutzes an sich nicht viel geändert haben.
Dass der Staatsschutz erhebliche Mängel aufweist, ist spätestens seit der "Staatsaffäre" rund um den am 13.01.2009 in Wien auf offener Straße ermordeten tschetschenischer Paramilitär und späteren Menschenrechtsaktivisten Umar Israilow ein offenes Geheimnis. Auch damals haben die Sicherheitsbehörden falsch und fehlerhaft bzw. gleichgültig und naiv gehandelt (diese Pannen kosteten dem damaligen Wiener LVT-Chef den Job, Erich Zwettler war sein Nachfolger). Die diesbezügliche Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien erfolgte damals auf Grundlage des § 88(2) SPG; das Gericht nahm es als erwiesen an, dass die Republik Österreich die "Schutzpflicht des Staates für das Recht auf Leben" verletzt hätte.
Mit dem Bundesgesetz über die Organisation, Aufgaben und Befugnisse des polizeilichen Staatsschutzes (Polizeiliches Staatsschutzgesetz - PStSG) aus dem Jahr 2016 hat man zwar dem Staatsschutz eine eigene rechtliche Basis gegeben; behördenintern hat sich aber damit (noch) nichts zum Besseren verändert. Nun "bastelt" man an einer Änderung dieser Grundlage; selbst die beste Gesetzesänderung vermag aber an den behördeninternen Missständen nichts zu ändern solange die handelnden Personen dieselben bleiben bzw. die Besetzung von "Spitzenpositionen" auf Gedeih und Verderb nur machtpolitischen Überlegungen ausgeliefert ist.
Reformbemühungen im Zusammenhang mit dem BVT gibt es bereits seit dessen Entstehung im Jahr 2002; allein, sie haben bislang kein zufriedenstellendes, vernünftiges Ergebnis gezeitigt. Man nimmt damit scheinbar billigend in Kauf, dass es um den Staatsschutz schlecht bestellt ist und es von Zeit zu Zeit durchaus zur Ermordung unschuldiger Personen kommen kann.
So verwundert es auch nicht, dass man seit dem März 2015 im Innenministerium die sog. "Teilstrategie Sicherheit" nicht mehr geändert bzw. den aktuellen Erfordernissen angepasst hat.
Zu Erinnerung: Im März 2015 war noch Johanna Mikl-Leitner Innenministerin; ihr folgten Wolfgang Sobotka, Herbert Kickl, Eckart Ratz, Wolfgang Peschorn und zuletzt eben Karl Nehammer im Amt.
Bereits 2015 ging man aber schon davon aus, dass die primäre Gefährdung für die Sicherheitslage in Österreich vom islamistischen Extremismus und Terrorismus ausgehe. "Die Etablierung einer so genannten "home-grown"- Szene, die sich vor allem aus jungen Muslimen der zweiten und dritten Einwanderergeneration sowie aus zum Islam konvertierten Personen zusammensetzt, ist dabei kennzeichnend. In diesem Zusammenhang ist in jüngster Vergangenheit auch eine Verfestigung der Radikalisierungs- und Rekrutierungsaktivitäten festgestellt werden, die unter anderem ein gesteigertes Interesse an einer Ausbildung in einem terroristischen Trainingslager im Ausland oder die aktive Teilnahme an Kampfhandlungen ("Foreign Terrorist Fighters") nach sich ziehen."
Ob diese Einschätzung weiser Voraussicht oder einem "Zufallstreffer" zu verdanken ist, spielt heute keine Rolle (mehr). Faktum ist, dass der Staatsschutz dieser Einschätzung nicht Rechnung getragen und keine Maßnahmen dagegen unternommen hat. Man hat diese "primäre Gefährdungssituation" weder ernst noch zum Anlass genommen, präventiv tätig zu werden. Dadurch ist, wie das Attentat vom 02.11.2020 erhellt, der islamistische Extremismus (der zweiten und dritten Einwanderergeneration) völlig außer Kontrolle geraten. Erst jetzt, im Nachhinein und vor dem Hintergrund der Ermordung von vier Menschen, wird man tätig, durchsucht Wohnungen und Häuser, schließt Moscheen, in denen offenbar über Jahre hinweg radikalisiert und instrumentalisiert wurde, besinnt sich auf die Kernaufgabe der Staatsschutzeinrichtungen BVT und LVT.
Alle genannten Innenminister (ausgenommen Eckart Ratz, der nur 13 Tage im Amt war) hätten die Möglichkeit gehabt, darauf Einfluss zu nehmen, etwas zum Besseren hin zu verändern; dasselbe gilt für die in dieser Zeit tätigen Generaldirektoren für die Öffentliche Sicherheit, Konrad Kogler, Michaela Kardeis und nunmehr (nach kurzer interimistischer Leitung) Franz Ruf.
Wie bereits 2009 hat man aber vom sicherheitspolizeilichen "Olymp" aus nur ein mehr oder weniger williges Bauernopfer gesucht und gefunden; den Leiter des LVT Wien. Aufklären soll das Ganze hingegen eine Sonderkommission.
Die derzeitige Verteidigungsstrategie von Nehammer, Ruf sowie dem Wiener Polizeipräsidenten Pürstl (seit 2008 im Amt) verdeutlicht nur allzu klar, dass in den letzten 5 ½ Jahren weder Schwarz noch Blau, Unabhängige oder Türkise in der Lage waren, den Staatsschutz so zu gestalten, dass sich die Bevölkerung tatsächlich sicher fühlen kann. Man kann sich dabei auch nicht darauf berufen, dass die Perioden des jeweiligen Tätigwerdens meistens ziemlich kurz waren bzw. sind; denn Staatsschutz hätte an und für sich ohne Affinität zu irgendeiner politischen Partei zu erfolgen, müsste kontinuierlich wie konsequent sowie vorausschauend präventiv gestaltet werden. Das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung kann und darf man nicht auf dem Altar parteipolitischer bzw. sonstiger Eitelkeiten opfern. Genau das geschieht derzeit in Österreich; von sicherheitspolizeilicher Fürsorgepflicht oder einer Schutzpflicht des Staates hat man bislang nichts gehört.
Chr. Brugger
09/11/2020