Lockdown der Menschlichkeit in Europa

14.01.2021

Mehrfach habe ich bereits direkt von Lesbos aus berichtet. Ein weiterer, nächster Aufenthalt auf Lesbos wäre derzeit allerdings nur unter "erheblich erschwerten" Bedingungen möglich. Klar ist aber, dass sich die Zustände im Moria-Nachfolgelager Kara Tepe nicht geändert haben; sie sind allerdings, im Vergleich zu Moria vor dem Brand, noch katastrophaler, menschenunwürdiger und -verachtender.

In Österreich wurde in den letzten Wochen bzw. Monaten darüber wenig bis gar nichts berichtet; die erschütternde humanitäre Situation im Südosten der Europäischen Union scheint bei uns niemanden mehr zu interessieren. Wie auch: Wir haben die Bewältigung der Corona-Krise im Visier, der scheinbar alles untergeordnet wird; die Reanimation der Wirtschaft hat oberste Priorität. Dazu gibt es ab und an ein paar tagespolitische "Schmankerln" aus In- und Ausland (Aschbachers wissenschaftliche Elaborate; Trumps unrühmlicher Abgang als Präsident etc.).

Kanzler Kurz (Videobotschaft vom 12.09.2020), Außenminister Schallenberg (Interview in der ZIB 2 vom 10.09.2020) und Innenminister Nehammer (u.a. im Interview bei FELLNER! LIVE am 18.09.2020) haben sich ganz klar gegen eine Aufnahme von Kindern, die in den Lagern auf Lesbos, nach wie vor, großes Leid ertragen müssen, ausgesprochen. Man leiste ohnedies "humanitäre" Hilfe; insbesondere in Form von Hilfsgütern aller Art (Nehammer hat sich dabei ja bemüßigt gefühlt, medienwirksam und persönlich nach Griechenland zu reisen).

Jetzt ist zwar geplant, das Lager Kara Tepe bis zum Ende des Sommers 2021 insofern neu zu adaptieren als man Container zur Verfügung stellt, in denen sich der Aufenthalt im Flüchtlingscamp, das sich abgelegen in den Bergen befinden soll, leichter ertragen lässt.

Ungeachtet dieser Pläne müssen aber vor allem die Kinder zuerst diesen Winter auf der Insel unbeschadet überstehen bzw. überleben.

Kinder werden von Ratten angenagt, Lebensmittel sind nicht ausreichend vorhanden, die hygienischen Zustände sind katastrophal: Es gibt keinen Abwasserkanal, kein warmes Wasser, keine Stromanschlüsse und erst seit kurzem kalte Duschen.

Zudem nehmen gewalttätige Übergriffe zu; davon betroffen sind vor allem Kinder und Jugendliche. Sexuell motivierte Exzesse stehen an der Tagesordnung; so soll, Berichten zufolge, vor ein paar Wochen ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt worden sein; es wurde anschließend verletzt und bewusstlos in einem Container "entsorgt".

Es sind zwar ca. 300 Polizei- und Sicherheitskräfte vor Ort; diese sind aber scheinbar nicht in der Lage oder willens, körperliche Gewalt, Streitereien der "Bewohner" untereinander oder einen der mittlerweile fast zahllosen Selbstmordversuche zu verhindern.

Knapp 8.000 Menschen (darunter viele minderjährige Kinder, schwangere Frauen und Kranke) leben derzeit im Flüchtlingscamp. Witterungsbedingt ist das Lager seit Wochen Sturm und Kälte ohnmächtig ausgeliefert. Nachts sinken die Temperaturen in den 0-Grad-Bereich; in unmittelbarer Nähe des Meeres gelegen, wird das "Zeltdorf" immer wieder überflutet.

COVID-19 bedingt ist ein Verlassen des Lagers seit Monaten nicht mehr möglich; die "Insassen" sind daher, vor allem bei der Versorgung mit Lebensmitteln, von der "Außenwelt" abhängig.

Die Außenwelt (vor allem die Europäische Union) hat aber, angesichts der kolportierten wirtschaftlichen "Weltuntergangsstimmung", seit geraumer Zeit eben keine Zeit, sich mit den Flüchtlingen auf einer Insel zu beschäftigen, die ihren dortigen Aufenthalt nur der (geographischen) Tatsache verdanken, dass sich Lesbos in unmittelbarer Nähe zur kleinasiatischen bzw. anatolischen Türkei befindet.

Erschütternd wie erhellend und berührend zugleich schildert Heribert Prantl in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 27.12.2020 die Situation vor Ort:

"Lockdown der Menschlichkeit in Europa

Nachts schlafen die Ratten nicht. Weihnachten im Flüchtlingslager in der Ägäis: Wo Babys gebissen und infiziert werden.

In letzter Minute haben sich die EU und Großbritannien auf ein Handelsabkommen geeinigt. Das war bitter notwendig und das war nach der elend langen Verhandlerei spektakulär. Man wünscht sich die Entschlossenheit, zu einem guten, wenigstens zu einem erträglichen Ergebnis zu kommen, auch in der Flüchtlingspolitik. Die letzte Minute ist da schon lang vorbei.Denn die Entschlossenheit der EU geht hier nicht in eine gute, sondern eine furchtbare Richtung. Es ist die Entschlossenheit, nichts Gutes zu tun: Es soll tunlichst nichts passieren, um die grauenvollen Zustände in Flüchtlingslagern in der Ägäis nachhaltig zu verbessern. Die Zustände dort sollen abschreckend und hoffnungslos bleiben. In den gefängnisartigen Lagern leben die Flüchtlinge im Dreck. In Moria 2 stehen viele Zelte unter Wasser; überall ist es voller Schlamm. Die hygienischen Bedingungen, die Versorgungs- und die Sicherheitslage im Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos sind zum Erbarmen; nachts wurde dort ein dreijähriges Kind vergewaltigt. Im Lager Vathy auf Samos werden die Babys und Kleinkinder von Ratten gebissen; die Tetanusimpfung durch Hilfsorganisationen ist dann das Weihnachtsgeschenk.

Unrecht, Unsicherheit, Frechheit

Es könnte Hilfe geben, aber es soll sie nicht geben, weil Europa das nicht will. Die Lager sollen Orte der Abschreckung bleiben. Die EU nennt sich Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit. Freiheit? In den Flüchtlingslagern sind Unrecht und Unsicherheit so groß, dass man von einer schandbaren europäischen Frechheit reden muss. Es gibt in der Flüchtlingspolitik einen Lockdown der Menschlichkeit.Gerd Müller, Bundesminister für Entwicklungshilfe, hat von den Rattenbissen im Flüchtlingslager berichtet. Mir ist dabei eine der ergreifendsten Erzählungen der Nachkriegszeit eingefallen, Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte "Nachts schlafen die Ratten doch" aus dem Jahr 1947. Sie spielt am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Trümmern einer deutschen Großstadt: Der neunjährige Jürgen wacht seit Tagen, mit einem Stock in der Hand, in den Ruinen eines Hauses. Sein vierjähriger Bruder liegt tot unter den Trümmern, von einer Bombe getötet. Von seinem Lehrer hat Jürgen erfahren, dass Ratten Leichen fressen; er will das verhindern.

Hoffnungsvoll, hoffnungslos

Ein fremder alter Mann kommt mit ihm ins Gespräch, hat Mitleid mit dem übernächtigten und halb verhungerten Jungen. Der Mann greift zu einer Lüge und versichert Jürgen, dass die Ratten nachts schlafen und er deshalb jetzt nicht auf seinen toten Bruder aufpassen müsse. Er bietet dem Jungen an, bei ihm etwas zu essen und dann zusammen mit ihm für ein Kaninchen, das er ihm schenkt, einen Stall zu bauen. Der Mann versucht, das traumatisierte Kind langsam wieder ins Leben zurückzuführen. Ob es ihm gelingt, sagt die Geschichte nicht. Es ist trotzdem eine hoffnungsvolle Geschichte. Die Geschichte der EU-Flüchtlingspolitik ist hoffnungslos. Die Europäische Union unternimmt nicht einmal den Versuch, den traumatisierten Kindern zu helfen. Die Ratten in Europa schlafen nachts nicht.

Hornhaut auf der Seele

Corona hat die Aufmerksamkeit von den Flüchtlingen wegkonzentriert. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind ein Hohn auf die EU-Grundrechte-Charta und die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Flüchtlinge werden dem Dreck, dem Coronavirus, den Ratten und dem offenen Meer überlassen. Die EU-Staaten haben alle Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer eingestellt. Die Türkei und Griechenland spielen Wasser-Ping-Pong mit den Flüchtlingsbooten; Frontex, die europäische Grenz- und Küstenwache, schaut dabei zu oder spielt mit. Bundesinnenminister Horst Seehofer schreibt Briefe, um die private Seenotrettung - die unter anderem von der Evangelischen Kirche finanziert wird - zu torpedieren. Corona hat offenbar auch eine Hornhaut über die christsoziale Seele wachsen lassen.

Soeben ist ein Boot mit 37 Migranten an Bord vor der Küste Tunesiens gesunken; 20 Menschen ertranken, darunter 19 Frauen, vier davon schwanger. In der Woche vor Weihnachten seien vier Kinderleichen in Libyen angespült worden, berichtet die Hilfsorganisation Sea-Eye. Ihr Hilfsschiff heißt Alan Kurdi. Es ist benannt nach dem zweijährigen syrischen Flüchtlingskind, dessen Leichnam im September 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Die Bilder des toten Kindes am Strand erregten damals weltweites Aufsehen. Und heute?

Das Fest der unschuldigen Kinder

Am 28. Dezember begeht die Kirche seit vielen Jahrhunderten das "Fest der unschuldigen Kinder". Es erinnert an den Tag, an dem laut Bibel König Herodes die Kinder von Bethlehem töten ließ - in der Hoffnung, dabei auch das Jesuskind zu erwischen, das er als Gefahr für seine Herrschaft betrachtete. Dieser Tag und das Brauchtum, das sich damit verbindet, gehören zur Weihnachtszeit.

Die unschuldigen Kinder leben heute in den Flüchtlingslagern. Das wirkliche Weihnachten ist in unseren Zeiten dann, wenn sie gerettet werden; wenn "Der Retter" wirklich kommt - und er nicht nur im Weihnachtslied besungen wird."


Dem ist, aus heutiger Sicht, nichts mehr hinzuzufügen.

Die österreichische Haltung bzw. die stupide, unwürdige wie menschenverachtende Sichtweise unserer Bundesregierung wird von Integrationsministerin(!) Susanne Raab anlässlich eines Interviews in der ZIB 2 vom 16.12.2020 noch einmal manifestiert. Man werde von der bisherigen Haltung, was die Aufnahme von Kindern aus dem Lager auf Lesbos betrifft, nicht abgehen und setzte nach wie vor auf humanitäre Hilfe; ungeachtet dessen, wie sich die Zustände im Lager Kara Tepe darstellen und ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass zahlreiche (Stadt-) Gemeinden in ganz Österreich bereit sind, vor allem Kinder, die sich alleine und ohne elterliche Betreuung auf der Insel befinden, jederzeit aufnehmen zu wollen.

Chr. Brugger

14.01.2021