Moria - Der Tragödie erster Teil

14.09.2020

Wir schreiben das Jahr 2011, befinden uns im nordöstlichen Teil der Ägäis und genießen den Blick auf die friedlich zu unseren Füßen liegende Meerenge von Lesbos. Die Gegend um Moria hat nicht viel zu bieten; einen spätrömischen Aquädukt, genügsame Ziegen, karg anmutende Böden, gemäßigtes Klima; im Ort selbst ein paar kleine Kirchen, idyllisch der Friedhof, viel Ruhe und noch mehr Gelassenheit; mit dem Auto ist Mytilini in knapp zwanzig Minuten erreichbar.

Mytilini, eine Hafenstadt mit knapp 40.000 Einwohnern, Verwaltungszentrum der Region "nördliche Ägäis", Sitz der Universität der Ägäis; standortgemäß Ozeanografie und Schifffahrt, dazu auch noch Ethnologie werden dort u.a. gelehrt.

Ich wohne, den ganzen Sommer und Herbst über, in einem eigenen Haus mit zwei Schlafzimmern, Blick auf das Meer, der Strand vor dem eisernen Tor, das den Zugang zum parkgleichen Garten durch Fremde bewacht. Pfirsich- wie Limettenbäume, Mandeln, Orangen, Zypressen; Salbei, Oregano, ein luxuriöses Bad und ein großes Arbeitszimmer. Malen, Schreiben, Essen, sehr viel Blau, verschwenderisch viel, von Cyan bis Türkis und Azur, mittel, lila, hell, grau, violett und dazu die nachtblauen Balken der Fenster; zwei streunende Katzen und, ja eine studierende Untermieterin, zeitgleich Muse & Putzfrau.

Mytilini war mir ein halbes Jahr wert und sehr nahe, spendete Ruhe und Schatten, nahm mich auf, hielt mich fest und fast nicht mehr los. Sie ließ mich schreiben, erzählen, erklären und handeln, malen und lesen, nichts tun und essen, sie drängelte nicht; sie ertrug nur, nahm hin, erwartete wenig ... ich war ihr ergeben und frei ... sie trauerte nicht, als ich sie verließ ... so verstand sie mich und mein Tun ...

Heute befinde ich mich wieder in Mytilini, wieder einmal. Das Haus ist dasselbe, es hat sich kaum etwas verändert; die beiden Katzen sind immer noch da (die Studentin allerdings nicht mehr), das Arbeitszimmer, das Bad, das eiserne Tor und der Strand.

Nur das viele Blau scheint wie von einem grauen Schleier umgeben zu sein. Es wirkt etwas düster, weniger lichtfroh und nicht mehr so gleisend.

Und: Nach Moria sind es immer noch knapp zwanzig Minuten. Was vor neun Jahren noch einer Auffahrt in den Himmel glich, bedeutet heute eine Fahrt in die Hölle. Die Hölle von Moria, besser gesagt das, was von ihr noch übriggeblieben ist.

Das Auto meines Nachbarn Dimitrios müht sich, ebenso wie mein schlechtes Gewissen, den Berg hinauf; im Radio hört man "The Logical Song" von Supertramp. Erst nach und nach verstehe ich, was ich sehe und höre. Wer bin ich? Was bin ich im Verhältnis zu dem, was ich sehe; wer bin ich im Verhältnis zu denen, wer im Verhältnis zu mir selbst.

Darüber, was ich mit eigenen Augen und eigenem Verstand an diesem Morgen erfahren musste, wird zu Hause mit Worten beschrieben und kommentiert, die man angesichts dessen, was hier längst Alltag geworden ist, nicht verstehen kann. Vergewaltigungen, florierender Drogenhandel, Kinderprostitution, das mysteriöse Verschwinden von (Klein-) Kindern.

"Gewaltbereite Migranten haben kein Recht auf Asyl in Europa", "wenn es eine Verteilung in Europa gibt, dann doch bitte von uns weg und nicht zu uns hin", "nicht bei jedem Fall, wenn ein Schiff vor der Küste Europas auftaucht, oder ein Zwischenfall in einem Lager ist oder irgend so eine Notlage, gibt es sofort das Geschrei Verteilung"; "zunächst möchte ich sagen, dass diese Bilder nicht nur emotionalisieren, sondern sie machen mich betroffen, sie machen mich als Frau betroffen, sie machen mich als Mutter betroffen ...".

All das hört man in Österreich, von wo aus, gleichsam ferndiagnostisch, Hilfe verordnet wird; finanzielle wie humanitäre, Geld & Güter. Zahlen macht Frieden und eine ausgeglichene Bilanz frei - es steht (zumindest) die schwarze Null, wenn auch, wie in diesem Fall, in personifizierter Form.

Für diese Haltung kann es nur zwei Gründe geben: Man will sein schlechtes Gewissen loswerden und erkauft sich solcherart die scheinbar notwendige Absolution oder man will sich von einer weitergehenden Verantwortung ganz einfach präventiv freikaufen.

Moria war, erinnert man sich etwas zurück, im Rahmen der Europäischen Agenda "Migration besser bewältigen" als sog. "Erstaufnahme- und Registrierungszentrum" ("Hotspot") konzipiert. Von dort aus sollten dann für die (registrierten) Flüchtlinge die europäischen Umverteilungsmechanismen greifen. Seit dem Frühjahr 2016 dient Moria u.a. zur Umsetzung des EU-Türkei Abkommens vom 18.03.2016 als "Verweilzentrum" in dem Asylsuchende darauf warten, in Griechenland Asyl zu beantragen, um auf andere europäische Staaten verteilt oder abgeschoben zu werden. Vom ursprünglich konzipierten "Hotspot" kann jedenfalls nicht mehr die Rede sein.

Vor dem Hintergrund der in Österreich getätigten Aussagen könnte man zumindest folgende Fragen stellen (zumal die zitierten Aussagen vom Österreichischen Bundesminister für Inneres, vom Bundeskanzler der Republik Österreich, vom Österreichischen Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten, sowie von der Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt der Republik Österreich stammen).

  • an BM Nehammer: Stehen asylsuchende Flüchtlinge (insbesondere Kinder) per se unter dem Generalverdacht der "Gewaltbereitschaft"?
  • an Kurz: Gibt es so etwas wie eine Solidarität zwischen den EU-Staaten und/oder gegenüber Menschen an sich?
  • an BM Schallenberg: Sind sie ernsthaft der Meinung, dass "Moria" einfach "so eine Notlage" sei?
  • keine Frage an BM Edtstadler (sie kann ohnedies nie eine Frage beantworten)

Den vier Genannten kann man Zynismus vorwerfen, Unmenschlichkeit oder gar hoffnungslose Ignoranz. Es wird ihnen keinen Kummer bereiten, sie gar betroffen oder nachdenklich machen. Sie werden ihre Haltung nicht ändern, nur Haltung bewahren. Zu oft und zu viel wurden sie in den letzten Wochen und Monaten medial gedemütigt; das ist allenfalls mit ein Grund dafür, dass sie jedweder Demut verlustig geworden sind. Demut gegenüber (Mit-) Menschen, Demut gegenüber ihrem Amt, Demut gegenüber ihrer politischen Verantwortung. Sie sind was sie sind ... herz- und emotionslos, unsensibel, verblendet ...

Man hört noch immer das Geschrei der kleinen Kinder, die verwahrlost und elternlos durch die Gegend laufen; man sieht die Angst in ihren Augen, die Hilf- und Aussichtslosigkeit, das Bitten und Flehen von dort weg zu kommen, wo sie sich seit Monaten befinden; einem Ort, an dem sie niemand zu suchen scheint, ein Ort, an dem es keine Hoffnung gibt; einem Ort im gelobt-vereinheitlichten Europa, das so stolz auf seine Geschichte, seinen Wertekanon (Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität) ist.

Nichts, nichts von alledem, scheint für die Bewohner von Moria bestimmt zu sein.

Lieber kündigt man wieder einmal anlassfallbezogen Reformen an, Lösungen für jahrelang bekannte Probleme, um dann wieder nichts zustande zu bringen; Jahre- und Jahrzehnte lang dauert das kollektive Versagen auf nationaler wie europäischer Ebene gleicht einem multiplen Organversagen der Politik bereits an. So spielt man auf der durchwegs schwarzen Klaviatur des Hinauszögerns mit den Emotionen, den Gefühlen, der Angst und letztlich dem Leben der Geflüchteten, denen, die ihre Heimat verlassen haben, nicht weil sie das wollten, sondern weil sie das mussten. In ihre Heimat können sie nicht zurück, der Zutritt zum eigentlichen Europa bleibt ihnen (aus österreichsicher Sicht) verwehrt. Sie sind gestrandet.

Ich erreiche Mytilini, mit Tränen in den Augen. Pink dröhnt aus den beiden kleinen Lautsprechern des Wagens: "What About Us"?

Chr. Brugger

12.09.2020