Sicherheitspolitik in Österreich
Der Allerseelentag war noch nicht vorbei, als Wien von einem Terroranschlag erschüttert wurde. Der zwanzigjährige Doppelstaatsbürger (Österreich, Nordmazedonien) Kujtim Fejzulai hatte in der Wiener Innenstadt mehrere Menschen getötet bzw. verletzt.
Staatstrauer, Gedenkminuten samt Pummerin, Kranzniederlegungen, ein Gedenkgottesdienst im Stephansdom, Ansprachen vom Bundespräsidenten & Bundeskanzler. Ganz Österreich trauert. Sonderberichterstattungen im ORF, Pressekonferenzen, Beileidsbekundungen aus dem Ausland, Trump, von der Leyen, Macron, Merkel, Netanjahu - alle solidarisierten sich mit Österreich.
Kernbotschaft: Im Schmerz vereint, gemeinsam gegen den feigen Terrorismus, dem Hass keinen Raum geben, die Demokratie verteidigen.
Es stellt sich, neben all den mit dem Anschlag verbundenen Folgen (massenpsychologische Konsequenzen, subjektives Sicherheitsbedürfnis jedes einzelnen Menschen etc.), die Frage, wie es so weit kommen konnte, wie es möglich sein kann, dass ein allen Justiz- und Sicherheitsbehörden bekannter, rechtskräftig verurteilter und vorzeitig bedingt entlassener, Straftäter ungehindert terroristisch tätig werden kann.
Bundeskanzler, Innenminister und der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit vermeinen, die Justiz sei schuld daran, dass Kujtim Fejzulai überhaupt in die Lage versetzt wurde, solcherart tätig zu werden. Wäre er nicht vorzeitig aus der Strafhaft entlassen worden, wäre der konkrete Anschlag überhaupt nicht möglich gewesen. Der Attentäter habe sich, nicht zuletzt aufgrund der Ermittlungsergebnisse der Sicherheitsbehörden, in den "Händen" der Justiz befunden und sei nach seiner Haftentlassung zwei Vereinen zugewiesen worden, die (gemeinsam mit dem Landesgericht Wien) für seine "Deradikalisierung" zuständig und verantwortlich gewesen seien. Daher sei er auch nicht mehr am sicherheitsbehördlichen "Radar" aufgeschienen.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich die die Sicherheitsbehörden seit seiner strafrechtlichen Verurteilung trotz Kenntnis der Sachlage nicht mehr für den Zwanzigjährigen zuständig fühlten bzw. um diesen gekümmert haben.
Fejzulai habe seine "Resozialisierung" bzw. den Verlust seiner Affinität zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), gleichsam seine "Deradikalisierung" nur vorgegaukelt, dadurch scheinbar die Vereinsverantwortlichen sowie die zuständigen Behörden getäuscht bzw. in die Irre geführt, so die Meinung von Nehammer und Ruf.
Wenn jemand Österreich verlassen will, um sich dem IS anzuschließen, wird das (gravierende) Gründe haben und nicht aus "Jux und Tollerei" geschehen. Wenn jemand (nach der Haftentlassung) in das benachbarte Ausland (Slowakei) fährt, um sich Munition zu besorgen, wird das ebenfalls einen Grund haben und impliziert, dass derjenige über Schusswaffen verfügt (zum Spielen benötigt man keine Munition). Wenn von all dem die Sicherheitsbehörden Kenntnis haben, darf man sich ruhigen Gewissens die Frage stellen, warum derjenige dann immer noch vollkommen unbehelligt durch Wien gehen und Menschen töten bzw. verletzen kann, ein ganzes Land in Furcht und Unruhe versetzt und am Ende das Tages die Justiz für all das verantwortlich sein soll bzw. die Sicherheitsbehörden dafür nicht zuständig sind, weil sie den Mann in den "Händen" der Justiz sicher aufgehoben wissen wollten.
Es stellt sich auch die Frage, warum es dann das beim Bundesministerium für Inneres angesiedelte Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) überhaupt noch gibt bzw. was dessen eigentliche Aufgaben sind.
Faktum ist: Kurz aber vor allem Nehammer und Ruf sollten zuerst vor ihrer eigenen Haustüre kehren und ihr eigenes, offen erkennbares, behördeninternes Versagen hinterfragen bzw., wie man neuerdings so schön sagt, evaluieren.
Dass das für die Opfer des Anschlages zu spät kommt ist aber ebenso klar wie die Tatsache, dass die Sicherheitsbehörden, respektive das Innenministerium, für diese traurige Gewissheit (mit-) verantwortlich sind.
Erst jetzt wird im In- und Ausland sowie im Umfeld des Täters ermittelt, erst jetzt tagen die Führungs-, Einsatz und Krisenstäbe, erst jetzt kommt eine verstärkte Antiterrorkomponente ins Spiel, nimmt man zur Kenntnis, dass einem amtsbekannten IS Sympathisanten gelungen ist, was man relativ einfach und problemlos hätte vermeiden können.
Weil jedoch, im Sinne eines Zitats aus Christian Morgensterns Palmström-Liedern, "nicht sein kann, was nicht sein darf", benötigt man (österreichtypisch) neben dem toten Täter einen weiteren "Schuldigen". Den hat man in der Person von Alma Zadić, der Bundesministerin für Justiz, offensichtlich bereits gefunden, die aber ihrerseits wiederum behauptet, die vorzeitige Haftentlassung sei rechtmäßig erfolgt bzw. üblich (was tatsächlich richtig ist).
Dieses Hin- und Herschieben von Verantwortlichkeiten führt aber letztlich nur dazu, dass das Vertrauen der Bevölkerung in den staatlichen Sicherheitsapparat bzw. das vorhandene Sicherheits- und Justizsystem nur noch mehr abnimmt, man am Ende davon ausgehen muss, dass es sich beim Wien-Attentäter- möglicherweise zwar nur um eine einzelne Person gehandelt hat, dafür latent die Gefahr vorhanden ist, dass weitere potenzielle Täter frei und ungehindert bzw. unbeobachtet durch die Gegend laufen und der nächste Anschlag allenfalls bereits bevorsteht oder in Planung ist. Sollte das tatsächlich der Fall sein, wird man wieder einen "Schuldigen" suchen und jedenfalls wieder fündig werden.
Offenbar nimmt man lieber unschuldige Opfer in Kauf als das eigene Unvermögen oder Versagen auf den Prüfstand zu stellen bzw. zu hinterfragen. Auch das ist österreichtypisch, wenn auch auf Kosten und zum Nachteil der Bevölkerung.
Chr. Brugger
04/11/2020