Staatsschutz in Österreich oder: Gustav ans an Gustav zwa

06.11.2020

Verfolgt man die medialen Auftritte der für das Attentat in Wien (02.11.2020) zuständigen Behördenvertreter, kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass der Staatsschutz in Österreich ganz einfach nicht funktioniert bzw. nicht ernst genommen wird.

Die verantwortlichen Personen (Innenminister Nehammer, der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit Ruf sowie der Wiener Polizeipräsident Pürstl) vermitteln bei ihren (gemeinsamen) Pressekonferenzen, zuletzt am 05.11.2020, immer wieder den Eindruck, dass dem Schutz des Staates keine vorrangige Bedeutung zukommt.

Anders sind die jeweiligen Äußerungen der drei Genannten nicht zu erklären.

Für Nehammer ist "offensichtlich einiges schiefgelaufen"; u.a. konnte der Täter "das Deradikalisierungsprogramm" perfekt täuschen".

Ruf konstatiert, dass es mehrmalige Rückfragen in die Slowakei gegeben habe; ein strafrechtlich relevanter Anfangsverdacht würde der Staatsanwaltschaft und den Justizbehörden vorgelegt; "wir können eine Observation nur dann machen, wenn die Identität gesichert ist und wir müssen einen Antrag schreiben, den der Rechtsschutzbeauftragte genehmigen muss".

Pürstl wiederum spricht von Ermittlungen auf sehr hohem Niveau, "dem Niveau des österreichischen Staatsschutzes", einem "standardisierten Programm zur Gefahrenabschätzung"; "diese Einschätzung, die getroffen wurde, hätte nicht dazu geführt, dass unmittelbar und zeitnah etwaige Festnahmen oder Dauerobservationen oder so möglich gewesen wären"; "Gefahreneinschätzung ist immer Prognose"; "man kann nur das Beste tun, um Straftaten zu verhindern".

Basis für das Handeln der zuständigen Behörden wären aber vor allem das Bundesgesetz über die Organisation, Aufgaben und Befugnisse des polizeilichen Staatsschutzes (Polizeiliches Staatsschutzgesetz - PStSG) sowie das Bundesgesetz über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz - SPG).

Ohne an dieser Stelle auf Details der sich aus den genannten Gesetzen ergebenden Pflichten der Sicherheitsbehörden einzugehen, ergibt sich daraus ganz klar, dass für alle Maßnahmen nach dem SPG keinesfalls die Zustimmung des Rechtsschutzbeauftragten erforderlich ist (es gibt eine Mitteilungspflicht an den Rechtsschutzbeauftragten aber keine Antragspflicht):

§ 91c. SPG

(1) Die Sicherheitsbehörden sind verpflichtet, den Rechtsschutzbeauftragten von jeder Ermittlung personenbezogener Daten durch Observation (§ 54 Abs. 2) und deren technische Unterstützung (§ 54 Abs. 2a), durch verdeckte Ermittlung (§ 54 Abs. 3 und 3a), durch den verdeckten Einsatz von Bild- oder Tonaufzeichnungsgeräten (§ 54 Abs. 4), durch Verarbeiten von Daten, die andere mittels Einsatz von Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten er- und übermittelt haben (§ 53 Abs. 5 erster Satz) unter Angabe der für die Ermittlung wesentlichen Gründe in Kenntnis zu setzen.

Auch nach dem PStSG sind keinesfalls alle Maßnahmen genehmigungspflichtig; gem. § 14(2) PStSG gilt dies nur für Aufgaben gem. § 6(1) Z 1 oder 2 PStSG, nicht hingegen für Aufgaben gem. § 6(1) Z 3:

3. der Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen aufgrund von Informationen von Dienststellen inländischer Behörden, ausländischen Sicherheitsbehörden oder Sicherheitsorganisationen (§ 2(2) und (3) PolKG sowie von Organen der Europäischen Union und Vereinten Nationen zu Personen, die im Verdacht stehen, im Ausland einen Sachverhalt verwirklicht zu haben, der einem verfassungsgefährdenden Angriff entspricht.

Die Sicherheitsbehörden hätten daher auf dem Boden der derzeit bestehenden Rechtslage problemlos Ermittlungstätigkeiten durchführen können und müssen. Warum es bei einer solchen Sachlage (rechtskräftige Verurteilung gem. § 278a u. 278b StGB - kriminelle Organisation / terroristische Vereinigung sowie versuchter Ankauf von Munition für ein Sturmgewehr AK-47 (Kalaschnikow)) überhaupt noch einer Gefahreneinschätzung bedarf, ist bislang nicht geklärt; dass die getroffene Einschätzung aber "nicht dazu geführt hätte, dass unmittelbar und zeitnah etwaige Festnahmen oder Dauerobservationen oder so möglich gewesen wären" ist ebenso widersprüchlich wie falsch.

Entweder hat man eine Einschätzung getroffen oder man ist bis 02.11.2020 eben zu keiner Einschätzung gekommen; dass jede Einschätzung nur eine Prognose ist bzw. sein kann, liegt in der Natur der Sache: Eine Prognose ist (definitionsgemäß) eine Einschätzung bzw. eine Aussage über die Entwicklung in der Zukunft.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, welcher Sachverhalt vorliegen muss, dass die österreichischen Sicherheitsbehörden zur Einschätzung gelangten, es läge eine staatsschutzrelevante Bedrohung vor.

Liest man den Verfassungsschutzbericht des Innenministeriums aus dem Jahr 2018, so kann man diesem (zusammengefasst) insbesondere Folgendes entnehmen:

  • Für Österreich geht die größte Bedrohung unverändert vom islamistischen Extremismus und Terrorismus aus
  • Gleichzeitig hat in vielen europäischen Ländern, wie auch in Österreich, die Bedrohung durch das Phänomen der "Home-grown-Extremisten" bzw. der radikalisierten Einzeltäter zugenommen. Das Internet spielt bei der Radikalisierung von Einzeltätern eine bedeutende Rolle, da in sozialen Netzwerken und einschlägigen Online-Foren spezielle islamistische bzw. jihadistische Inhalte abgerufen werden können
  • Art und Weise terroristischer Anschläge im vergangenen Jahr deuten darauf hin, dass sich der Trend islamistisch inspirierter, mit relativ einfachen Mitteln durchgeführter Anschläge fortsetzen wird. Mittlerweile sind nicht mehr aufwändige Ausbildungen wie Kampftrainings und Reisen ins Ausland für die Verübung terroristischer Anschläge erforderlich, sondern ressourcenärmere Methoden mit geringem finanziellem Aufwand attraktiver geworden. Bei den Modi Operandi der jüngsten Vergangenheit standen vor allem die Verwendung von Messern, Schusswaffen und Kraftfahrzeugen als Tatmittel im Vordergrund. Diese Form der Bedrohung geht hauptsächlich von radikalisierten Einzelaktivisten und potenziellen Nachahmungstätern aus, die durch die IS-Ideologie inspiriert und durch jihadistische Aufrufe in sozialen Medien motiviert wurden
  • Der Syrienkonflikt stieß in den Ländern des Westbalkans auf besonderes Echo. Auch wenn sich in der Region keine eigene islamistische Terrorgruppe herausgebildet hat, so hat die Ideologie des Islamischen Staates dennoch innerhalb der muslimischen Gemeinden am Balkan steigenden Zuspruch erhalten

Hauptaufgabe des Staatsschutzes ist "die Beobachtung einer Gruppierung, wenn im Hinblick auf deren bestehende Strukturen und auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld damit zu rechnen ist, dass es zu mit schwerer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbundener Kriminalität, insbesondere zu ideologisch oder religiös motivierter Gewalt kommt sowie der vorbeugende Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen durch eine Person, sofern ein begründeter Gefahrenverdacht für einen solchen Angriff besteht" (§ 6(1) PStSG). Dieser Aufgabe sind die zuständigen Behörden im konkreten Fall nicht nachgekommen.

Dass man für die Feststellung der Identität des Attentäters ca. 2 ½ Monate benötigt ist ein weiteres Indiz dafür, wie ernst die österreichischen Sicherheitsbehörden die Mitteilung des Innenministeriums der Slowakischen Republik vom 23.07.2020 genommen haben. Man habe, so Ruf, zweimal urgiert und einmal angerufen; die abschließende Antwort habe man am 16.10.2020 erhalten - und Pürstl spricht vom "sehr hohen Niveau des österreichischen Staatsschutzes"(!).

Die Entfernung Wien - Bratislava beträgt ca. 80km und wäre mit einem Pkw problemlos in einer Stunde zu bewältigen gewesen. Dann hätte man mit den slowakischen Behörden sowohl das "unscharfe" Lichtbild des Attentäters betrachten und mit den Lichtbildern inländischer bzw. einschlägig vorbestrafter Täter abgleichen bzw. allenfalls weitere Ermittlungstätigkeiten initiieren können. Eine solche Maßnahme ist den Staatsschutzbehörden aber scheinbar nicht in den Sinn gekommen, wiewohl Ruf laufend von einer guten internationalen Zusammenarbeit spricht. Die Identifizierung des (späteren) Attentäters wäre daher (unter Berücksichtigung aller anderen bekannten Tatsachen) zumindest bis Ende Juli 2020 ohne jeden Aufwand und mit ganz einfachen Mitteln möglich gewesen.

Ruf verweist in diesem Zusammenhang (Pressekonferenz vom 04.11.2020), darauf, dass der versuchte Ankauf von Munition für ein Sturmgewehr AK-47 (Kalaschnikow) grundsätzlich in der Slowakei auf seine strafrechtliche Relevanz hin zu überprüfen gewesen wäre; aus seiner Aussage ergibt sich auch, dass er bis gestern scheinbar nicht wusste, ob es (in der Slowakei) tatsächlich zu einer Anzeige gegen den Attentäter gekommen ist.

Dabei übersieht er, dass man das Verhalten des Attentäters in der Slowakei gem. Art. 19(1) letzter Satz ("Jeder Mitgliedstaat kann seine Gerichtsbarkeit auch begründen, wenn die Straftat im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begangen wurde") der RICHTLINIE (EU) 2017/541 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 15. März 2017 auch in Österreich hätte abhandeln können.

Das ändert aber keinesfalls etwas daran, dass die Information der Slowakischen Behörden, in Verbindung mit dem Strafverfahren gegen den Attentäter in Österreich (Verurteilung und bedingte Haftentlassung, Probezeit 3 Jahre), auch zu entsprechenden Ermittlungen (u.a. § 6(1) Z3 PStSG) hätte führen müssen.

Wäre dies der Fall gewesen, wäre der "Hinweis" aus der Slowakei nicht nur zwischen BVT und dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung "hin- und hergeschoben" worden; dann hätte nämlich zweifelsfrei die Verpflichtung bestanden, die obersten Organe der Vollziehung (Art. 19 B-VG) sowie die mit der Leitung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes und der Länder betrauten Organe zu unterrichten.

Unabhängig davon wäre aber gem. § 8(2) PStSG in jedem Fall zumindest das Justizministerium zu unterrichten gewesen, zumal Umstände vorlagen, die für die Ausübung des Amtes von wesentlicher Bedeutung sind (allfälliger Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Attentäters). Auch das ist unterblieben.

Bei der Runde der ChefredakteurInnen im ORF am 05.11.2020 wurde die Vorgangsweise der zuständigen Behörden u.a. so kommentiert: "haarsträubende Dinge", "Riesenskandal", "Klischee des Gustav ans an Gustav zwa", "Schlendrian, Schlamperei in diesem Behördenapparat", "naiv, amateurhaft der größten Bedrohung des Landes gegenübertreten", "ablenken von dem, was wirklich passiert ist", "Detailbeschreibungen bleiben weit hinter dem zurück, was tatsächlich passiert ist", "traumatisierte Menschen bleiben zurück ... Politik geht zur Tagesordnung über", "Untersuchungsausschuss, der im Nirvana endet", "BVT als Hühnerhaufen ... in diesem Chaos ist diese Information untergegangen",

Diese Kommentare kann man werten wie man will; es manifestiert sich aber mehr und mehr, dass die verantwortlichen Personen (Nehammer, Ruf, Pürstl) versuchen, alles insofern auf "die lange Bank" zu schieben, als sie unisono immer dann auf die einzusetzende Untersuchungskommission verweisen, wenn es um die Beantwortung "lästiger" Fragen geht. Zugegeben bzw. kommentiert wird nur das, was ohnedies bereits bekannt geworden ist.

Für Nehammer ist zwar "offensichtlich etwas schiefgelaufen"; das ändert aber nichts daran, dass man scheinbar versucht, sich über den Umweg einer solchen Kommission aus der Verantwortung zu stehlen. Sieht man sich den Verlauf bzw. die Ergebnisse der letzten Kommissionen bzw. Untersuchungsausschüsse in Österreich an, dann haben die Verantwortlichen ganz gute Aussichten, dass auch "Gustav ans an Gustav zwa im Nirvana endet, die Politik zur Tagesordnung übergeht und traumatisierte Menschen zurückbleiben".

Dafür, dass das nicht der Fall ist, könnte möglicherweise gerade die von Kurz, Nehammer und Ruf anfangs so stark kritisierte Justiz sorgen; nämlich dann, wenn die bereits in Aussicht gestellten Amtshaftungsklagen Erfolg haben und im Rahmen dieser (Zivil-) Verfahren von den Sicherheitsbehörden alle maßgeblichen Unterlagen vorzulegen sind.

Die bisherige Judikatur des Obersten Gerichtshofes (OGH) in ähnlich gelagerten Fällen (OGH, 26.04.1989, 1 Ob 7/89; OGH, 27.02.2001, 1 Ob 282/00b) lässt auf der Seite der Kläger zumindest viel Zuversicht aufkommen. Auch in diesen beiden Fällen hatten es Sicherheitsbehörden unterlassen, ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Eine Unterlassung ist nach Ansicht des OGH jedenfalls immer dann rechtswidrig und kann Schadenersatzverpflichtungen zur Folge haben, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand.


Chr. Brugger

06/11/2020