Think Austria
Antonella Mei-Pochtler hat den Financial Times ein Interview gegeben, das am 04.05.2020 unter dem Titel "Arrogance´blinded big countries to virus risk, says Austria adviser" erschien.
Dem käme an sich soweit keine allzu große Bedeutung zu; Mei-Pochtler, in Italien geborene Unternehmensberaterin, Studien in München, Rom und Fontainebleau, Mitarbeiterin der Boston Consulting Group in leitenden Funktionen, ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende der Wolford AG.
Selbst der bilderbuchartige Werdegang würde, in Österreich zumindest, niemanden interessieren, handelte es sich bei Mai-Pochler nicht um die Leiterin der "Strategiestabstelle des Bundeskanzlers- Zukunftsradar und Ideenlabor für neue Ansätze in Politik und Verwaltung".
"Think Austria" wird diese Stabsstelle genannt - die Denkfabrik des Kanzlers mit folgendem Aufgabenbereich:
"Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit Österreichs ist das wichtigste Ziel, die mittel- und langfristigen Trends frühzeitig zu erkennen sowie Lösungsansätze aufzugreifen und zu erarbeiten. Dazu müssen die Herausforderungen früh erkannt und priorisiert werden, um politische Maßnahmen nachhaltig zu gestalten und rechtzeitig umzusetzen.
Das Themenspektrum deckt zahlreiche Querschnittsmaterien ab, die von Wirtschaft und Sozialem, über Umwelt, Bildung und Wissenschaft, bis hin zur fortschreitenden Digitalisierung reichen. Diese werden mit einem interdisziplinären und möglichst ganzheitlichen Ansatz unter Einbindung der besten österreichischen und weltweiten Expertise bearbeitet.
Folgende Aufgabenbereiche werden daher von Think Austria wahrgenommen:
- Aufbereitung von strategischen Dokumenten, die der Information beziehungsweise Entscheidungsgrundlage in ausgewählten Themenfeldern dienen
- Unterstützung bei der Ausarbeitung nationaler Strategien im Einklang mit den federführenden Ressorts
- Vernetzung und regelmäßiger Austausch mit (inter-)nationalen Think Tanks und politischen Strategiestellen anderer Regierungen
- Österreich in Vergleich zu anderen Nationen zu setzen, um in ausgewählten Bereichen von den Besten zu lernen
Vor diesem Hintergrund möchte Think Austria den Bundeskanzler und die Bundesregierung faktenbasiert und sachorientiert unterstützen und als Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Expertinnen und Experten sowie Politik agieren."
Bereits im Kabinett Kurz I hatte Mei-Pochtler diese Funktion inne; unter Kanzlerin Bierlein wurde die Denkfabrik geschlossen, unter Kurz II wurde sie wiedereröffnet.
Bis hierher wäre das Geschriebene keine einzige Zeile wert; liest man aber das Interview in den Financial Times zur Gänze bzw. etwas genauer, dann wird klar, warum sich Politik und Medien in Österreich mit dem von Mei-Pochtler Gesagten beschäftigen.
Erstens handelt es sich bei den Financial Times nicht um irgendein "Käseblatt", sondern um eine der weltweit renommiertesten Wirtschaftszeitungen (wenn auch mit zahlreichen politischen Artikeln bzw. Kommentaren), die im Jahr 2015 um ca. € 1,2 Milliarden an den japanischen Medienkonzern Nikkei, dem Namensgeber des Tokioter Börsenindex, verkauft wurde.
Zweitens hat Mei-Pochtler in diesem Interview Einiges verlauten lassen:
- "There is an inborn arrogance of large countries who think no other country is like them ... small countries tend to learn much more from each other. We are much more open, to looking right, left, up and down," she added.
- Public trust in the government and public institutions - alongside a measure of luck - have also been factors in Austria's success, Ms Mei-Pochtler said.
- Making the downloading and use of a contact tracing app a criterion for access to the country for foreign tourists is one option being considered to encourage visitors without endangering public health. The government has ruled out making the app mandatory for Austrians, but hopes that many citizens will voluntarily use it as its benefits become clear."This will be part of the new normal. Everyone will have an app. I think people will want to control themselves," Ms Mei-Pochtler said. "You cannot manage a pandemic top down forever. You need to manage it from the bottom up."
- She believes technology such as contract tracing apps will be vital and European societies will be challenged by the need to balance public health with tools "on the borderline of the democratic working model".
Das bedeutet,
- dass nach Meinung von Mei-Pochtler große Länder über eine angeborene Arroganz verfügen, der Meinung sind, dass sie anders, nicht vergleichbar sind
- dass das öffentliche Vertrauen gegenüber der Bundesregierung und öffentlichen Institutionen, neben einem gewissen Maß Glück, Faktoren für den Erfolg Österreichs bei der Virusbekämpfung waren
- dass Touristen als Bedingung für eine Einreise nach Österreich eine sog. Nachverfolgungsanwendung benötigen, die Regierung ausgeschlossen hätte, solche Anwendungen für Österreicher verpflichtend einzuführen, vielmehr hoffe, dass möglichst viele Inländer diese freiwillig verwenden
- dass Mei-Pochtler davon ausgeht, dass Nachverfolgungsanwendungen Teil der neuen Normalität sein werden und künftig jede(r) über eine solche Anwendung verfügen wird; sie ist der Meinung, dass sich Menschen selbst kontrollieren wollen; man könne eine Pandemie nicht auf Dauer von oben herab verwalten, sondern müsse sie von unten nach oben bewältigen
- dass solche Nachverfolgungsanwendungen künftig lebensnotwendig sein würden, die europäische Gesellschaft gefordert sei, diese Werkzeuge zu verwenden damit die allgemeine Gesundheit nicht aus dem Gleichgewicht gerät; dies, noch dazu, im Grenzbereich demokratischer Rahmenbedingungen
Man könnte das Gesagte bzw. Geschriebene als Privatmeinung von Mei-Pochtler werten; sie ist aber bei diesem Interview offiziell als "Österreich Beraterin" aufgetreten. Zudem weicht sie bis zu einem gewissen Grad von der Linie der Bundesregierung ab, wenn sie vermeint, künftig würde jeder über eine solche Applikation verfügen. Dass das die Mehrheit der Bevölkerung nicht will, steht außer Streit; das hieße aber im Umkehrschluss, dass man, sollte sich die Aussage von Mei-Pochtler bewahrheiten (daher jeder Österreicher über eine solche Nachverfolgungsanwendung verfügen), diese Methode der Überwachung zwangsweise einführen müsste.
Nebenbei sind Hauptaufgaben von Think Austria, "Lösungsansätze zu erarbeiten", "politische Maßnahmen nachhaltig zu gestalten", die "Unterstützung bei der Ausarbeitung nationaler Strategien"; dies alles im Themenspektrum quer durch alle Materien "bis hin zur fortschreitenden Digitalisierung".
Das bedeutet, zusammengefasst, dass Mei-Pochtler das Interview nicht in privater Mission gegeben, damit überdies Inhalte von sich gegeben hat, die keinesfalls persönlichen, vielmehr offiziellen Charakter haben.
Die Frage, ob das eine kluge Strategie war, kann man durchaus mit nein beantworten; von der österreichischen Chefstrategin könnte man zumindest mehr Fingerspitzengefühl und Zurückhaltung erwarten; einfach denken wäre allenfalls ein ganz gutes Hilfsmittel. Dann hätten Medien und die politische Konkurrenz auch keine Angriffsfläche und der Kanzler müsste sich nicht rechtfertigen.
Dieser Fauxpas von Mei-Pochtler bestärkt mich vor dem Hintergrund der vollkommenen Intransparenz von Think Austria noch zusätzlich in meiner ablehnenden Haltung gegenüber Denkfabriken. Selbst von der Beschäftigung mit dem Lieblingsspielzeug des Kanzlers könnte man Sinnstiftendes erwarten.
Insofern dürfte Thomas Bernhard wohl recht gehab haben, wenn er in seinem "Heldenplatz" schreibt: "Debatten führen zu nichts; alle Welt debattiert und es kommt nur Unsinn heraus".
Chr. Brugger
05.05.2020